Wann darf das Gericht eine „hypothetische Einwilligung“ des Patienten annehmen?

Hätte sich ein Patient auch bei korrekter Aufklärung zu einer Behandlung entschieden, kann er trotz Aufklärungsfehler kein Schmerzensgeld verlangen. Doch wann ist das der Fall?
Ein Patient möchte seine Kurzsichtigkeit beheben lassen – per Laserbehandlung. Sein Augenarzt klärt ihn daher über die sogenannte LASIK-Behandlung auf. Die Abkürzung steht für LASIK steht für „Laser in Situ Keratomeleusis“ und bezeichnet das häufigste Verfahren der Augenlaserkorrektur: Der Behandler trägt dabei mit dem Laser Gewebe im Inneren der Augenhornhaut ab, um die Kurzsichtigkeit zu beheben.
Im konkreten Fall lief der Eingriff, der in Vollnarkose durchgeführt wurde, nicht wie geplant. Angesichts der auftretenden Probleme entschied sich Arzt deshalb spontan dafür, eine andere Laser-Technik anzuwenden – die sogenannte PRK (Photoreaktive EXCIMER-Behandlung). Bei diesem Verfahren wird die oberflächlichste Zellschicht mechanisch abgeschabt und muss dann binnen einiger Tage nachwachsen. In dieser Zeit ist das Auge sehr lichtempfindlich, außerdem kommt es zu starken Schwankungen des Sehvermögens.
Über die Risiken der PRK hatte der Arzt seinen Patienten nicht aufgeklärt.
Im Anschluss an den Eingriff litt der Mann unter Sehstörungen und Augentrockenheit. Er führte diese Beschwerden auf den Eingriff zurück. Als auch eine Korrektur-Operation keine Linderung brachte, verlangte er von seinem Augenarzt Schmerzensgeld wegen Verletzung der Aufklärungspflicht.
Der Arzt hielt dagegen, der Patient hätte auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung über die Risiken der PRK in den Eingriff eingewilligt. Der Fall wurde streitig.

Die Sichtweise des Patienten muss bei einer hypothetischen Einwilligung berücksichtigt werden

Das OLG Brandenburg entschied zunächst zugunsten des Arztes: Wenn eine hypothetische Einwilligung im Raum steht, muss der Patient plausibel darlegen, dass er sich bei korrekter Aufklärung gegen die Operation entschieden hätte oder zumindest in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre.
Das, so das OLG, sei dem Patienten schon in seinen Schriftsätzen nicht gelungen. Der Augenarzt könne sich daher auf eine „hypothetische Einwilligung“ berufen. Es sei davon auszugehen, dass der Patient dem Eingriff in jedem Fall zugestimmt hätte. Auf eine persönliche Anhörung des Patienten verzichtete das Gericht.
Gegen dieses Urteil zog der Patient vor den Bundesgerichtshof – und hatte Erfolg. Die höchsten deutschen Zivilrichter hoben das Urteil auf und verwies den Rechtsstreit zurück (Az. VI ZR 310/21). Das Argument der Karlsruher: Wenn die äußeren Umstände der Aufklärung und der tatsächlichen Entscheidungssituation des Patienten so umstritten seien wie hier, dürfe ein Gericht über den Fall nicht entscheiden, ohne den Patienten dazu persönlich anzuhören.

Kommentar von Jürgen Wahl, Fachanwalt für Medizinrecht:

Ist umstritten, ob sich der richtig informierte Patient für oder gegen eine bestimmte Heilbehandlung entschieden hätte, muss ihn das Gericht zu dieser Frage anhören. Es darf einen Entscheidungskonflikt also nicht vorschnell nach objektiven Kriterien entscheiden, sondern muss die persönlichen Beweggründe des einzelnen Patienten mit in Betracht zu ziehen. Tut es das nicht, verletzt das Gericht das Recht des Patienten auf „rechtliches Gehör“. Der BGH hat mit seiner Entscheidung einmal mehr das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Patienten gestärkt und die Bedeutung der der Selbstbestimmungsaufklärung betont.