Arzthaftung: Vorsicht bei Vergleichen

Gerichtsverfahren wegen eines Behandlungsfehlers sind oft langwierig und kräftezehrend. Viele Patienten schließen daher irgendwann einen Abfindungsvergleich. Doch so sinnvoll eine Einigung im Einzelfall sein mag, sie kann auch zum Bumerang werden. Dann nämlich, wenn über ihre Reichweite ein weiterer Rechtsstreit entsteht.
Wer einen Arzt oder ein Krankenhaus wegen eines Behandlungsfehlers verklagt, erhofft sich – neben Schmerzensgeld und Schadenersatz – meist auch die Genugtuung, den Saal als Sieger zu verlassen.
Manchmal kann es aber sinnvoll sein, einen jahrelangen, erbitterten Rechtsstreit zu verhindern oder abzuschließen. Und einen Vergleich mit der Gegenseite zu schließen. Im besten Fall spart ein solcher Kompromiss Geld und Nerven – und beendet das Verfahren auf interessengerechte Weise. Im schlechtesten Fall allerdings bietet der Vergleich die Grundlage für den nächsten Rechtsstreit. Zum Beispiel dann, wenn ein Patient auf Basis des Vergleichs zwar ein Schmerzensgeld für einen nachgewiesenen Behandlungsfehler bekommen hat, nicht aber für unerwartete Spätfolgen.
Dann fragt sich: Muss die Versicherung noch einmal zahlen, wenn bestimmte Komplikationen erst Jahre nach dem Vergleich auftreten? Oder bedeutet ein einmal geschlossener Vergleich, dass Patienten keine weiteren Ansprüche gegen den Schädiger gelten machen können?
Mit diesen Fragen musste sich vor Kurzem das Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen befassen (Az. 5 U 62/20). Konkret ging es um den Fall einer Frau, die bei einer Wirbelsäulen-Operation im Jahr 1991 eine Rückenmarksverletzung davongetragen hatte und seitdem im Rollstuhl sitzt. Der Rechtsstreit mit dem behandelnden Arzt dauert mehr als ein Jahrzehnt. Er endete im Jahr 2003 mit einem Vergleich – und der Zahlung von Schmerzensgeld an die Patientin.

Sind unerwartete Spätfolgen vom Abfindungsvergleich umfasst?

Neun Jahre nach der Einigung diagnostizierte ein Arzt bei der Frau eine klinische Syringomyelie. Bei diesem seltenen Krankheitsbild füllen sich Hohlräume in der grauen Substanz des Rückenmarks mit Flüssigkeit. Die Entwicklung war zwar eindeutig auf den Behandlungsfehler und die Verletzung des Rückenmarks zurückzuführen. Allerdings stritten sich Klinik und Patient nun darüber, seit wann die Syringomyelie bestand.
Das Krankenhaus vertrat die Ansicht, das Krankheitsbild sei bereits im Jahr 2003 angelegt gewesen, so dass das bereits gezahlten Schmerzensgeld auch die damit verbundenen Beeinträchtigungen umfasse. Die Patientin hingegen verlangte zusätzliches Schmerzensgeld – wegen der damals noch nicht absehbaren Spätfolgen des Behandlungsfehlers.

Wenn ein zweites Schmerzensgeld möglich ist

Das Gericht entschied zugunsten der Patientin. Zwar betonte der Senat, dass nicht jede Abweichung von den zu erwartenden Folgen eines Behandlungsfehlers einen Anspruch auf zusätzliches Schmerzensgeld entstehen lasse. Jedoch könne der geschädigte Patient zumindest dann eine weitere Entschädigung verlangen, wenn seit dem Vergleich solche Verletzungsfolgen zu beklagen seien, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht eingetreten waren und mit deren Eintritt auch nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden musste.
Nach Einschätzung des Gutachters war diese enge Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt. Zudem führte der medizinische Sachverständige aus, dass die Datenlage zum Zeitpunkt des Vergleichs so schlecht gewesen sei, dass selbst ein hochspezialisierter Fachmediziner keine Aussage zur Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Verletzungsfolge hätte machen können. Die Klinik musste nochmal zahlen.