Hirnschaden bei Baby: Kinderärzte haften für unterbliebene Krankenhauseinweisung
Durchfall und Erbrechen können für Säuglinge lebensbedrohlich sein. Kinderärzte müssen die Beschwerden daher ernst nehmen und entsprechend agieren – selbst dann, wenn die Eltern dies nicht tun.
Es ist der Ostermontag des Jahres 2003. Kurz vor Mitternacht stellt sich eine Frau mit ihrer im Jahr zuvor geborenen Tochter in der Ambulanz einer Uniklinik vor. Das Mädchen hat Durchfall und muss sich immer wieder übergeben. Der diensthabende Arzt untersucht das Kind, bestimmt Blutgase und Serumelektrolytkonzentration. Die Werte sind normal, er diagnostiziert einen Magen-Darm-Infekt und verordnet eine Elektrolytlösung, sowie Perenterol und Tee. Zudem gibt er der Mutter mit auf den Weg, sie möge ihr Kind wieder vorstellen, sollte sich der Zustand verschlechtern.
Am Vormittag des Folgetages sucht die Frau mit dem Baby einen niedergelassenen Kinderarzt auf. Sie gibt ihm den Arztbericht aus der Klinik und berichtet Folgendes: „Seit gestern Erbrechen, hält nichts bei sich, gestern zweimal Durchfall, heute noch kein Durchfall aber schon erbrochen, kein Fieber.“ Auch der niedergelassene Arzt untersucht das Kind, injiziert und verordnet Vomex und Paspertin. Ferner händigt er der Mutter ein von ihm verfasstes Merkblatt über den Magen-Darm-Infekt bei Säuglingen und Kleinkindern aus.
Zwei Tage später stellt sich die Mutter erneut in der Praxis vor, kommt aber nur bis zur Arzthelferin. Diese stellt ein Wiederholungsrezept aus, das sich auf die bereits durch den Klinikarzt verordneten Medikamente bezieht. In den Behandlungsunterlagen heißt es zum Zustand des Babys: „isst seit gestern nicht mehr, trinkt aber viel Tee, Diät halten, abwarten, ggf. Nachmittag zurückmelden.“ Den Arzt bekamen Mutter und Tochter nicht zu Gesicht.
Klare Ansagen fehlen
Am Nachmittag desselben Tages konsultiert die Mutter mit dem Kind eine weitere niedergelassene Kinderärztin. Diese notiert: „Versuch m. strenger Diät z.B. Tee, Heilnahrung mindestens 700 bis 1000 ml bis abends, sonst Klinik. Aufklärung über die Notwendigkeit KH, Oma meint bei ihr würde Kind gut trinken, E mündlich abgelehnt.“
Statt ihr Kind in die Klinik zu bringen, telefoniert die Mutter am Folgetag lieber erneut mit Kinderärztin Nummer zwei, die daraufhin in der Akte vermerkte: „(…) Klinik oder zumindest Wv Arzt“ und „sofort Klinik oder Wv“. Zudem teilte sie der Mutter mündlich mit, es drohe eine Verschiebung der Salze, die nicht mit dem Leben vereinbar sei.
Sie sollte recht behalten.
Als die Mutter ihren Säugling schließlich wieder in die Universitätskinderklinik bringt, kommt das Kind umgehend auf die Intensivstation. Die Ärzte stellen eine schwerste hypertone Dehydratation/Toxikose fest. Das Mädchen leidet seitdem an einer Hirnschädigung, schwersten motorischen Störungen sowie einer allgemeinen und sprachlichen Entwicklungsverzögerung. Die Mutter verklagte daraufhin beide Kinderärzte wegen eines Behandlungsfehlers – und bekam Recht.
Beide Ärzte haften
Einen Fehler des Kinderarztes Nummer eins bejahte das Gericht unter anderem deshalb, weil die Mutter nach dem ersten Termin dort erneut versucht haben, ihr Kind vorzustellen, aber von einer Arzthelferin weggeschickt worden sei. Der Sachverständige führte dazu aus: Allen Mitarbeitern in einer Kinderarztpraxis müsse klar sein, dass ein Säugling mit wässrigem Durchfall und Erbrechen absolute Priorität habe, vom Arzt gesehen zu werden, da sich der Zustand schnell zu einem Notfall auswachsen könne.
Doch auch Kinderärztin Nummer zwei haftet für einen Fehler: Denn lehnt ein Patient (oder hier die Eltern) eine Krankenhauseinweisung ab, muss ihn Arzt über die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Behandlung aufzuklären. Der Hinweis der Kinderärztin zwei, es drohe eine Verschiebung der Salze, die nicht mit dem Leben vereinbar sei ist demnach nicht ausreichend, um medizinisch ungebildeten Laien den Ernst der Lage zu verdeutlichen (OLG Köln, Urteil vom 17.02.2021, 5 U 110/20)
Anmerkung von Jürgen Wahl, Fachanwalt für Medizinrecht:
Ob ein Patient sich für oder gegen eine Behandlung entscheidet, ist grundsätzlich ihm überlassen. Ärzte müssen allerdings dafür sorgen, dass medizinische Laien potenziell lebensbedrohliche Situationen auch als solche wahrnehmen. Im vorliegenden Fall wäre es daher zwingend gewesen, die zum Teil nicht besonders einsichtigen Eltern des Kindes in verständlicher und eindringlicher Weise darauf hinweisen, dass ihre Tochter ohne Einweisung ins Krankenhaus sterben oder schwere Schäden davontragen kann.