Unzulässige Beweis-Antizipation

Welche Folgen hat es im Arzthaftungsprozess, wenn das Gericht das Beweisangebot bezüglich eines Zeugen übergeht? Der Bundesgerichtshof vertritt dazu eine klare Linie.

Nach einer langen Leidensgeschichte und insgesamt 13 Knie-Operationen bekommt eine Frau von ihrem Orthopäden eine Knieprothese im rechten Bein eingesetzt. Nach der Operation infiziert sich das Gelenk. Der Chefarzt der Klinik führt eine Spülung durch und empfiehlt die Behandlung mit Antibiotika.
Ein Jahr später stellt sich die Frau erneut vor. Es besteht erneut der Verdacht einer Infektion. Deshalb wird die alte Prothese entfernt und eine neue eingesetzt. Wenig später muss auch diese Prothese ausgetauscht werden. Nach Aussage des nun behandelnden Arztes wies der im Schienbein verankerte Teil der Prothese eine erhebliche Fehlstellung auf.

Aussage des Sachverständigen allein ist nicht immer ausreichend

Die Frau verklagte daher den Arzt, der die zweite OP durchgeführt hatte, auf Schadenersatz und Schmerzensgeld. In erster Instanz und vor dem Berufungsgericht hatte sie damit keinen Erfolg, da sie einen Behandlungsfehler während der zweiten Operation nicht habe nachweisen können.
Das OLG Hamm stützte sich insbesondere auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen, der davon ausging, dass sich auf Basis der Beschreibung des Operateurs der zweiten Knie-OP ein Behandlungsfehler nicht feststellen lasse. Auf eine Vernehmung des Arztes, der die dritte OP vorgenommen war, verzichtete das Gericht, obwohl die Klägerin dies angeboten hatte.
Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots ist ein Verfahrensfehler
Daraufhin legte die Frau Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (BGH) ein – und hatte Erfolg. Die Karlsruher Richter befanden, dass das OLG die angebotene Vernehmung des Arztes, der die dritte Revisionsoperation durchführte, zu Unrecht abgelehnt hat (Az. VI ZR 1151/20)
Zwar hatte dieser Arzt lediglich den im Oberschenkel verankerten Teil der Prothese ausgetauscht, nicht aber den im Schienbein verankerten, um den es vorliegend ging. Die Patientin hatte seine Vernehmung allerdings gerade zum Beweis der Tatsache angeboten, dass er diese Komponente nur deshalb nicht ausgetauscht habe, weil sie fest einzementiert gewesen sei und daher nicht ohne Beschädigung des Schienbeins hätte entfernt werden können.

Das OLG hatte die Vernehmung deshalb für entbehrlich erklärt, weil Arzt, der die zweite OP durchgeführt hatte, den Wechsel der Schienbein-Komponente als „nicht erforderlich“ bezeichnet hatte. Darin, so der BGH, liege eine eine unzulässige Beweisantizipation.

Es sei nicht auszuschließen, dass der Zeuge den Vortrag der Klägerin bestätigt, auch wenn dies nach Auffassung des OLG in Widerspruch zum Operationsbericht steht. Das OLG muss dem Beweisangebot deshalb nachgehen und darf erst nach Vernehmung des Zeugen seine Beweiswürdigung vornehmen.

Kommentar von Jürgen Wahl, Fachanwalt für Medizinrecht:

Der BGH betont in seinem Beschluss einmal mehr die Bedeutung des Prozessgrundrechts auf rechtliches Gehör. Dieses ist verletzt, wenn der von einer Partei angebotene Beweis nicht erhoben wird, weil das Gericht ihm wegen seiner bereits anderweitig gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst.